Die Historie der Hangweide in Kernen
Die Geschichte der ursprünglichen Nutzung reicht zurück bis ins Jahr 1865. Ursprünglich befanden sich auf dem Gelände eine Ölmühle und ein See.
Ab den 1930er Jahren wurden erste Gebäude auf dem Gelände (damals im Eigentum der Diakonie Stetten) als Behinderteneinrichtung genutzt.
Als Teil der »Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische und Schwachsinnige« Stetten war die Hangweide, südwestlich von Rommelshausen in einer Senke am Beibach
gelegen, seit 1937 eine »landwirtschaftliche Kolonie mit 15 männlichen Pfleglingen«. Die Bewohner der ehemaligen Ölmühle wurden – wie insgesamt 330 Patientinnen und Patienten der
Anstalt Stetten – 1940 von den Nationalsozialisten deportiert und in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet. Ihre Gebäude wurden von SS und Luftwaffe beschlagnahmt,
schließlich von den Alliierten zerstört.
Im Mai 1946 nahm die Hangweide den Betrieb wieder auf, unter ärmlichsten Bedingungen. 1954 lobte der Verwaltungsrat der Anstalt
Stetten einen Architekturwettbewerb aus. Die Hangweide wurde »Modellprojekt«. Acht Wohnhäuser für 320 Menschen samt Gemeinschaftshaus sowie Häuser für Mitarbeiter sollten eine »dorfartige
Siedlung mit großen Freiflächen zum Spiel und Spaziergang« bilden. Männer und Frauen waren streng separiert, die gut bewachte Pforte verhinderte ungewollte Begegnungen. Die Gebäude der Ölmühle
wurden ab 1946 als Gärtnerei genutzt.
1954 erfolgte ein Architekturwettbewerb zur Neugestaltung des Areals. Nachfolgend entstanden 1958 acht neue Pflegehäuser, ein Gemeinschaftshaus und
Mitarbeiterhäuser durch die Diakonie Stetten.
Die Ölmühle wurde 1970 mitsamt der Betriebsgebäude abgerissen.
Nach und nach öffnete sich dann auch das »Modellprojekt«: Das 1973 gebaute Schwimmbad wurde öffentlich, die Produkte der Gärtnerei waren auch in
Rommelshausen beliebt. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 stellt Inklusion in den Mittelpunkt und entsorgte so ausgrenzende Wohnkonzepte wie die Hangweide.
2017 wurde die Einrichtung der Diakonie endgültig geschlossen. 2019 wurde das Gelände an die Gemeinde verkauft, um es als
Wohngebiet zu nutzen. Im Jahr 2020 wurde ein Projekt zur Bebauung und für ein Zukunftskonzept in einem städtebaulichen Wettbewerb ermittelt. Das Areal Hangweide ist ein
offizielles Projekt der IBA’27.
Viele Jahr lang war die Hangweide ein Ort voller Leben und Heimat für Menschen mit Behinderung und Mitarbeitende der Diakonie Stetten. Auch das neu entstehende
Wohnquartier wird bald wieder ein solcher Ort zum Leben und Heimat für viele Menschen sein. In der Zeit zwischen altem und neuem Leben war das verlassene Gelände in einen Dornröschenschlaf
verfallen und wartete darauf, wieder geweckt zu werden. Die Natur hat sich an vielen Stellen ihren Raum zurückerobert.
Zusammen mit weiteren Mitgliedern des KuKuK habe ich mit Genehmigung der Gemeinde Kenen diese spannende Zwischenwelt im Oktober 2020 mit Kameras
erkundet und den Moment der Zwischenzeit fotografisch festgehalten. Die Bilder geben eine Ahnung, was dort einmal war und was dort wieder einmal sein kann. Zur Erinnerung an das Vergangene und
zur Vorfreude auf das Kommende.
Im Mai 2022 wurde mit dem Abriss der Gebäude und der Räumung des Geländes begonnen. Die Entwicklung zum IBA’27-Projekt sieht ein vielfältig
durchmischtes, inklusives Quartier vor, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, Identität und Leistungsfähigkeit zusammenleben.